Blogbeitrag

2016-06-12 Gründungsfest Allianz Frankfurt-Rhein-Main (Foto: Martin Mohr)

Wirklich Sonntag

29. Januar 2024

Das Wesen der Sonntagsruhe als Kulturgut zum Wohl des Menschen. Wahrnehmungen und Einschätzungen als Beitrag für die zu erwartende Evaluierung des Hessischen Ladenöffnungsgesetzes – ausgelöst durch die aktuellen Stimmen für Sonntagsöffnungen automatisierter Einkaufsläden. Von Rainer Petrak, Pfarrer i.R., für die Katholische Arbeitnehmerbewegung KAB, Diözesanverband Limburg, in der Hessischen Allianz für den freien Sonntag

Vorbemerkung:

Hier nicht oder nur nachrangig dargestellt sind die ebenfalls wichtigen, aber  öfter schon (umfassend bei der Evaluierung 2018 des Hessischen Ladenöffnungsgesetzes HLöG) dargestellten Argumente

  • zum Schutz des Rechtes der Arbeitnehmer/innen auf Teilhabe am sozialen Leben durch entsprechende Regulierung des arbeitsfreien Sonntags und anderer Arbeits- und Freizeiten (eigentlich ist Arbeitszeitrecht Bundesrecht, es berührt aber auch das Ladenöffnungsrecht und das Feiertagsrecht der Länder)
  • zu der Behauptung, die „teo-Märkte“ funktionierten sonntags angeblich ohne jedes Personal
  • zu der Behauptung, es gehe hier um eine bessere Versorgung der vernachlässigten Bevölkerung auf dem Land
  • zum Missbrauch von Liberalisierungen der Ladenöffnungen für Zwecke des Verdrängungswettbewerbs und der zunehmenden Konzentration auf Großunternehmen mit Fokussierung auf Investoreninteressen zu Lasten unternehmerischer Qualitäten
  • zur realitätsfremden Panikmache wegen angeblicher Privilegierung des den stationären Handel bedrohenden Online-Handels
  • zur – trotz neuerer Erkenntnisse der die Stadtplanung betreffenden Wissenschaften weiterhin – propagierten Panikmache hinsichtlich einer Verödung der Innenstädte, wenn diese nicht sonntags öffnen dürfen,
    und hinsichtlich der Vernachlässigung von nicht ökonomischen Faktoren bei der Sicherung und Weiterentwicklung der Standortqualität von Kommunen
  • hinsichtlich Demokratie und Rechtsstaat, wenn in Legislative und Exekutive kommerziellen Interessen die Oberhand überlassen wird
  • zu fragwürdigen oder faktisch falschen Vergleichen mit Ladenöffnungszeiten anderer Länder

Hier geht es mir darum, die Argumente jenseits des Arbeitsschutzes klar zu benennen und die Argumente um das „soziale Kulturgut“ und die „Sonntagsruhe zur seelischen Erhebung“ zu buchstabieren.

 

Der Sonntag – ein Thema?

Bezeichnend für den allgemeingesellschaftlichen und auch für den politischen Umgang mit der Thematik des Sonntagsschutzes scheint mir, dass mir – wie ich in der mail ankündigte – die Gelegenheit, mich auf diese Weise damit zu beschäftigen, mein bevorstehender Urlaub sein würde – „wann sonst kommt man schon dazu, sich mit der erforderlichen Muße diesem Muße-Thema zu widmen“. Schließlich geht es ja um Wesentliches, was mir im Leben wichtig ist. Mich darauf besinnen und es einer gewissen Klärung zuführen, das ist für mich – neben Wandern, Lesen und Nichtstun – eine wertvolle und sinnvolle Urlaubsbeschäftigung – und auch ein Stück Selbstverwirklichung. Ich versuche damit, zu mehr Empathie anzuregen für die neu aufgeflammte Debatte um den Sonntagsschutz.

Diese Neuauflage lenkt wieder ab von der eh bisher oft vernachlässigten Kategorie der öffentlich wirkenden Sonntags-Kultur. Da geht die Aufmerksamkeit auf die Sonntagsöffnungen der „teo-Märkte“ lenkt, in denen „doch sonntags gar niemand arbeitet, also in seinen Rechten geschützt werden müsste“.

Die Lust, für diese vernebelte Problematik eine klärende Perspektive zu entwickeln, hatte für mich schon ein paar Tage vor dem Urlaub angefangen: Beim täglichen Lesen in der Bibel stieß ich auf die köstlich menschliche Aussage über den Schöpfergott, dass der, nachdem er sechs Tage gearbeitet hat, sich einen Ruhetag gönnt.

Eine Lebensqualität „göttlichen“ oder „heiligen“ Standards besteht offensichtlich in einem rhythmischen Wechsel: Schöpferische Aktivität in der Sorge dafür, dass das Ganze „lebt“, gehört zusammen mit dem, was da „Ruhe“ genannt wird. So können die Teile des Ganzen, einander angemessen zugeordnet, sich selber und das Ganze verwirklichen

Wer wollte sich dann anmaßen, dem Recht des Menschen auf solchen Wechsel zwischen aktiver Leistung und vernetzter Ruhe höchste Priorität vorzuenthalten!

Auch unabhängig von einem religiös fundierten weltanschaulichen Gesamtbild hat die Menschheit längst erkannt: Wenn sie – individuell wie kollektiv – einigermaßen „gesund“ „weiterkommen“ will, muss sie einen Wechsel zwischen aktiver Spannung und ruhiger Entspannung pflegen. Sowohl die Allgemeinheit als auch die Einzelnen haben dazu eine Pflicht und ein Recht. Das wird vom deutschen Grundgesetz anerkannt und garantiert.

Auf alles, was belastet oder niederdrückt, soll Ruhe und Entspannung folgen, hier „seelische Erhebung“ genannt. Von der Natur vorgegeben sind vielerlei Wechsel-Vorgänge solcher Art: Der Tag-Nacht-Rhythmus, das Ein- und Ausatmen, aktive Entfaltung und Innehalten je nach Jahreszeit, gehören zum Leben schlechthin. In der Arbeit braucht der Mensch regelmäßig Pausen, Unterbrechungen, Urlaub. Das fordert seine leib-seelische Gesundheit. Und es fördert das soziale Miteinander.

Verstöße gegen einen solchen rhythmischen Wechsel machen krank. Das zeigen die alltägliche Erfahrung und jede Menge einschlägiger wissenschaftlicher Untersuchungen, obwohl die in ganz unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Interessenlagen in Auftrag gegeben wurden: von Krankenkassen, Gewerkschaften, Arbeitsmedizin, Psychotherapie …

Der Zeitforscher und Soziologe Hartmut Rosa sagte dazu 2017 (im FR-Interview Weihnachten 2017 Print-Ausgabe: „Die Welt wird freudloser“):

„Das Hauptproblem ist … die Steigerungslogik der Moderne. Ohne Wachstum kann unsere Wirtschaft und unser Sozialstaat nicht existieren. Auch jeder Einzelne muss jedes Jahr etwas schneller laufen, um seinen Platz in der Gesellschaft zu erhalten. … Dass wir an allen Ecken auf eine Krise zusteuern, liegt auf der Hand, denn wir sind nicht unendlich steigerungsfähig. … Auch die Psyche ist davon betroffen. Burn-out-Erkrankungen nehmen weltweit zu. … Die Welt wird zunehmend freudloser, sie ist von einer kollektiven Angst-Epidemie befallen. Statt wie im Hamsterrad zu laufen, sollten wir uns überlegen, wie ein gelingendes Leben für den einzelnen und die Gesellschaft aussehen sollte. … Wir müssen kollektiv die Angst aus dem Spiel nehmen, etwa … dadurch dass man kollektive Ruheräume wie den Sonntag und die Feiertage mit allen Mitteln verteidigt. …“

Eine menschliche Gesellschaft, wenn sie „gesund“ und zu konstruktivem Handeln fähig bleiben will, muss zu ihrem ökonomischen, gezielt rendite-relevanten Einsatz immer einen rhythmischen Wechsel pflegen mit zweckfreier Erholung, die auf kurzfristige Rendite verzichtet, sich aber auch immer wieder als kreativ und innovativ erweist. Denn wenn alles permanent, auf schnell und effektiv getrimmt, um Menschen herum wuselt und wenn Unterbrechungen als mangelnde Motivation, gar als Faulheit diffamiert werden, dann können sie weder zu sich noch zu der nötigen „Ruhe“ kommen. Da helfen auch keine der Wiederherstellung der Fitness zugestandenen, individuell unterschiedlichen Ruhetage. Wir brauchen dafür ein System, das sich der gleichzeitigen kollektiven Ruhe verpflichtet und dazu legitimiert weiß.

Aus dem Zusammenhang meiner christlich geprägten, sozial und an der menschlichen Freiheit orientierten Sicht, ist diese Bestrebung eine „heilige“ (in der Sprache der Bibel), eine „unverletzliche“ (in der Sprache der demokratischen Verfassung). Und wer entsprechende Aufforderungen als „Entmündigung“ deklassiert, übersieht die Verantwortung aller, die Freiheitsrechte der Mitmenschen zu respektieren.

 

Wie sieht diese legitimerweise beanspruchte „Ruhe zur seelischen Erhebung“ konkret aus?

In vielen gesellschaftlichen Kontexten – jenseits der Wirkungszusammenhänge von Konsum und Kommerz und jenseits aller einschlägigen Aspekte des Arbeitsschutzes – genießt dieser kulturelle Sonntagsschutz in unserer Gesellschaft längst normative Anerkennung – in der Gestalt öffentlich wahrnehmbarer „Sonntags-Ruhe“:

  • Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen gibt es an Sonntagen keine Konsumwerbung.
  • Glasmüll-Container werden – wegen des Lärms – an Sonntagen nicht befüllt.
  • Gewichtigen wirtschaftlichen Interessen entgegen schränken Verbote (!) den Lkw-Verkehr an Sonntagen erheblich ein.
  • Viele Pop-Lieder – in vergangenen Jahrzehnten mehr als heute – besingen die dem Sonntag eigene Lebenslust.
  • … (Wen – entgegen eigener ökonomischer Partikularinteressen – solche  Sonntagsruhe nicht verbittert, sondern froh aufatmen macht, wird selber weitere Beispiele aufzählen können.)

Im Zuge des zunehmend arbeitsfreien und schulfreien Samstags und zugleich im Zusammenhang mit zunehmend stressenden Lebensumständen und einem zugenommenen Bewusstsein von der Würde jedes Menschen hat sich die wertschätzende Sicht vom freien Sonntag auf das „Wochenende“ ausgeweitet. Wenn auch andere das als Hängematten-Mentalität abwerten, ist der beanspruchte Wechsel zwischen Zeiten von Arbeit und Zeiten der Ruhe bei uns eigentlich gut anerkannt.

Da kommen viele Menschen ins Schwärmen und wünschen einander ein „schönes Wochenende“ und meinen damit vielerlei Möglichkeiten, sich mit Freunden zu treffen, mal „fünfe gerade sein zu lassen“, Gelüsten nach und Neigungen zu Muße, Sport, Outdoor-Aktivitäten oder Kulturveranstaltungen nachzugehen. Ermöglicht wird das durch eine öffentlich wahrnehmbare Stimmungslage, in der mehr Spontaneität als an den Werktagen sich entfalten kann, weil weniger Zusammenhänge eines Zeitmanagements zu beachten sind und weil insgesamt mehr Ruhe „in der Luft liegt“. Im Urlaubs-Radio hörte ich: Da wurde zu einer Sendung willkommen geheißen „am Sonntag, dem Wohlfühltag der Woche“.

Ja, es gibt eine eigene Sonntags-Atmosphäre: Sonntags im Bus oder in der Straßenbahn, egal ob tagsüber oder abends, ist die gesamte Optik und Stimmungslage anders als an Werktagen. Sonntags machen die Menschen im öffentlichen Raum einen deutlich gelösteren Eindruck. Da gibt es mehr Kommunikation untereinander, mehr Freundlichkeit, auch manchmal mehr Ausgelassenheit, jedenfalls weniger starre Mimik und verkniffene Blicke.

Schon wenn ich am Sonntagmorgen wach werde, spüre ich unmittelbar, ich „rieche“ sozusagen: die Entspannung des Sonntags. Allein schon weil das Rauschen des werktäglichen Verkehrslärms von der Straße nicht da ist.

Ein konkretes Beispiel für die verrückte Situation: Diese Sonntagsruhe empfinde nicht nur ich unangenehm gestört, wenn im Frankfurter Stadtteil Fechenheim fast jeden Sonntagmorgen auf der Hauptstraße, die nur in Einbahnrichtung befahrbar und ziemlich eng ist, im Umfeld der Verkaufsfiliale einer Großbäckerei Kunden für die Dauer ihres Brötcheneinkaufs „mal kurz“ – gelegentlich mit Blinklicht oder auch mit laufendem Motor – ihr Auto zu beiden Straßenseiten so parken, dass der Linienbus nicht durchkommt. Da werden so manche Leute um ihre Sonntagsruhe gebracht, obwohl das durch besseren Sonntagsschutz ganz einfach zu vermeiden wäre: Wenn hier sonntags nur ein Café betrieben werden dürfte – ohne Ladenverkauf – , dann würden die Frühstücksgäste, die es ja weniger eilig haben, wenn es denn schon mit dem Auto sein muss, sich eher dazu überwinden, einen angemesseneren Parkplatz zu suchen. Aber die eiligen Kunden, auf die zuhause die Familie wartet, nehmen halt Stress und Hektik auch zu Lasten anderer in Kauf, egal ob dann das Recht des Busfahrers und der Fahrgäste und der Anwohner und der Fußgänger auf sonntägliche Ruhe auf der Strecke bleibt. Schon lange sagen Bäckereibetreiber, eine Sonntagsöffnung von Bäckerei-Verkaufsstellen – ohne vorangehendes Backen vor Ort! – sei ohnehin sinnlos, weil heutzutage in allen Haushalten dieselbe Möglichkeit besteht, Frühstücks-Backwaren per Mikrowelle, Toaster oder Backofen frisch fertig zu machen wie in den Verkaufsstellen. Und man könnte sich den Weg sparen. Kleinere Bäckereien, für die ihre gesetzlich erlaubte Sonntagsöffnung nur Unruhe und Personalprobleme und Kosten bringen, klagen, dass sie halt „mitspielen“ müssen, um nicht ihre Kundschaft an die finanzkräftigeren großen Ketten zu verlieren.

Es geht um ein Zusammenspiel vielfältiger Aspekte, die ein Stimmungsbild im öffentlichen Raum bilden und auf die vielen einzelnen Menschen einwirken. Sie beeinflussen auch ihr Mehr-oder-Weniger- oder auch ihr Garnicht-Miteinander. Das hat Folgen für ihr eigenes momentanes Lebensgefühl und wie sie sich verhalten. Und daraus entsteht diese „Atmosphäre“. Je nach dem, wie sie geprägt ist und Widerstände auslöst, schafft das dann Spannungen mit anderen persönlichen wie kulturellen Vorstellungen vom Leben. Oder aber Freude am Leben!

Beispiele und Diverses dazu siehe Video

In einer Welt, die den Wert der öffentlichen „Sonntagsruhe“ vernachlässigt und einen rhythmischen Wechsel zwischen Werktagen und Sonntagen nicht erlebt, ergibt sich ein unterschiedslos nivelliertes „Stimmungsbild“, das von einer Geschäftigkeit bestimmt ist, die eigentlich für Werktage typisch ist. In dem Maß, wie eine solche Einebnung der Sonntage stattfindet, wachsen dann die dafür typischen gesellschaftlichen und individuellen Schäden.

Wem dabei die Forderung nach besserer Umsetzung des Sonntagsschutzes einfach nicht gefällt, der findet allemal Gründe zur eigenen Rechtfertigung. Manche engen gerne die Bedeutung des Wortes „Ruhe“ ein, als sei damit „Stille“ gefordert. Damit gelingt es leichter, den Sonntagsschutz als „gestrig“ lächerlich zu machen oder als für die heutige Zeit untauglich hinzustellen.

Um allerdings einer solchen Verwirrung der Worte zuvorzukommen, sei daran erinnert: Durch die in einer Gesellschaft praktizierte Sonntagsruhe „erhobene Seelen“ können ihre Lebensfreude durchaus auch lautstark feiern. Doch das geht an Werktagen ja oft überhaupt nicht. Egal ob Musik oder Sport oder religiöse Gemeinschaft oder bürgerschaftliches Engagement, das „geht“ nur in einem Umfeld, in dem nicht alle rund um die Uhr erreichbar oder sonstwie in Bereitschaft bleiben müssen für die Geschäftigkeit, die zur Standard-Norm erhoben wurde. Solche Lebensfreude und Feiern „geht“ nur mit der Kultur des geschützten Sonntags. Eigentlich geht es um die Lebensfähigkeit einer Gesellschaft, die aus dem konstruktiven Miteinander ihrer Bevölkerung lebt.

 

Und was braucht es in Gesetzgebung und praktischer Politik, um die nötigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine Sonntagsruhe zu gewährleisten?

 

Stichwort „Grundrechte“

Auf der Jahrestagung der „Allianz für den freien Sonntag“ 2016 in Berlin nannte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, den Sonntagsschutz ein „Freiheitsrecht“.

Höchstrichterliche Urteile sehen in der verfassungsrechtlichen Regelung zum Schutz der Sonn- und Feiertage einen den Staat verpflichtenden Weg, mehrere Grundrechte umzusetzen, die der zu schützenden Menschenwürde besonders nahe stehen und die deshalb im Konfliktfall Vorrang haben vor anderen Grundrechten wie dem auf freie Verfügung über das Eigentum oder auf eine freie Entfaltung unternehmerischer Tätigkeit.

Dieser Schutzgarantie kann „ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient“, sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem denkwürdigen Urteil vom 1.12.2009 (Az.: 1 BvR 2857/07). Der verfassungsrechtliche Sonntagsschutz werde konkretisiert in den Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit, auf Schutz von Ehe und Familie, auf Religionsfreiheit und auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – die alle im Konfliktfall einen Vorrang genießen vor den Grundrechten auf freies berufliches Entscheiden und auf freie Verfügung über unternehmerisches Eigentum.

 

Stichwort „Sozialzeit“

Das Gericht macht aufmerksam auf die Auswirkungen der vollständigen Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Werktagen. Diese Regelung habe vielfältig – ich zitiere – „dazu geführt, … dass auch Supermärkte in kleineren Gemeinden ihre Läden zu Zeiten geöffnet halten, die früher dem Familienleben und der Wahrnehmung sozialer, gesellschaftlicher oder sportlicher Aktivitäten vorbehalten waren.“ Ende des Zitats. Das reduziere für die betroffenen Arbeitnehmer im Einzelhandel die Möglichkeiten eines zuverlässig sozial getakteten Privatlebens an Werktagen.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (06.11.2013 – Az.: 8 A 1705/13.Z) führte 2013 das Erfordernis zuverlässig getakteter Ruhetage weiter aus: Familienleben sei auf Dauer nur mit gemeinsam gelebten Zeiten möglich. Freundeskreise und Vereine brauchten für ein Zusammenkommen ihrer Mitglieder gleichzeitige, nicht durch Arbeitsverpflichtungen gebundene freie Zeiten. Verbände, politische Parteien, Kirchengemeinden, Initiativen bürgerschaftlichen Engagements usw. seien auf gemeinsam zugängliche Sozialzeiten angewiesen. Diese seien für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erforderlich.

Die „Allianz für den freien Sonntag“ sagte bereits in ihrer Gründungserklärung 2006: „Der verfassungsrechtliche Schutz des Sonntags drückt eine Priorität aus, die sich gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu bewähren hat. Angesichts des wachsenden Wirtschaftsdrucks ist der Sonntag als ein Tag der Ruhe und des bewussten Andersseins für die Menschen nötiger denn je. … Dass eine ganze Gesellschaft zur selben Zeit gemeinsam innehält, ist alles andere als unzeitgemäß. In einer immer hektischer werdenden Zeit ist der Sonntag auch wegen seiner langen Tradition eine Institution, die auf eine weitere Zukunft bauen kann.“

 

Stichwort „Geschäftigkeit“

Im Widerspruch zum Wesen der Ruhe, zu deren optimalen Schutz an Sonn- und Feiertagen das Grundgesetz alle Organe des Staates verpflichtet, stehen eine Reihe von Faktoren und Aspekten, die in der Sprache der Gerichte zusammengefasst werden als „typisch werktägliche Geschäftigkeit“.

Was damit gemeint ist, verdeutlicht die englische Sprache: Die Wörter „business“ und „busy“ verknüpfen sehr deutlich miteinander die Erfahrung von Geschäft und Unruhe in ihrem Gegensatz zu kreativer Ruhe und innovativer Entspannung.

Ich zitiere wieder das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 1.12.2009): „Das Erreichen des Ziels des Sonntagsschutzes – … – setzt das Ruhen der typischen werktäglichen Geschäftigkeit voraus. Gerade die Ladenöffnung prägt aber wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des Tages in besonderer Weise. Von ihr geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeits- und Betriebsamkeitswirkung aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird. Diese Wirkung wird nicht nur durch die in den Verkaufsstellen tätigen Arbeitnehmer und sonstigen Beschäftigten ausgelöst, sondern auch durch die Kunden. Sie erfasst überdies den Straßenverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr in seiner Dichte und hat Rückwirkungen auf dessen Beschäftigte wie auch den verkehrsverursachten Lärm. Auf diese Weise bestimmt die Ladenöffnung maßgeblich das öffentliche Bild des Tages. Damit werden notwendig auch diejenigen betroffen, die weder arbeiten müssen noch einkaufen wollen, sondern Ruhe und seelische Erhebung suchen, …“

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH-Urteil vom 15.05.2014) ergänzt, für die Einschätzung dieser Geschäftigkeit komme es nicht auf die Motivation der jeweiligen Initiatoren an. Maßgeblich sei allein das äußere Erscheinungsbild im öffentlichen Raum. Dazu gehören natürlich auch Elemente wie erhöhter Verkehrslärm und -dichte, die auch durch erforderliche Sekundärarbeiten entstehen wie etwa durch die Anlieferung von Nachschub oder durch die Betreuung von Kindern arbeitender Eltern.

Und der Verwaltungsgerichtshof benennt bei den Elementen, die das „öffentliche Bild des Tages“, also sein „äußeres Erscheinungsbild“ bestimmen, die „Art der Werbung“: Wenn „ein Besucherinteresse allein mit dem Hinweis auf sonntägliche Einkaufsmöglichkeiten … geweckt worden und damit objektiv genau an das ‚Shopping-Interesse’ potenzieller Kunden angeknüpft worden ist,“ dann prägt etwas das öffentliche Bild des Tages, „auf das … die Freigabe von Ladenöffnungen an Sonn- und Feiertagen nicht gestützt werden darf.“

 

Stichwort „Kommerzialisierung“

Ein Vordringen solcher Geschäftigkeit in die Sonn- und Feiertage bezeichnet das Bundesverfassungsgericht als „zunehmende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche“, die es um der Menschenwürde willen einzudämmen gelte. Dieser Vorgabe stehe allerdings entgegen, dass es Teilen der Wirtschaft gelungen sei, solche Kommerzialisierung von Freizeit und Sonntagsruhe breiten Teilen der Bevölkerung „schmackhaft zu machen“.

Das beschreibt den Trend, durch teuer eingekaufte – im Endeffekt von den Kunden bezahlte! – unterschwellig wirksame und höchst wirkungsvolle Marketing-Techniken den Menschen vorzugaukeln, man genieße mit solchem „Shopping-Event-Spaß“ eine neue „Freiheit“. Allerdings ist das lediglich der Effekt psychologisch beschreibbarer Mechanismen, die – zuverlässig wirksam, weil nahezu zwanghaft wirkend – zum Zweck der Profitmaximierung eingesetzt werden. Da geschieht, durch Profitinteressen einiger weniger gesteuert, eine Bemächtigung der verfassungsrechtlich geschützten Sozialkultur und eine unwürdige Entmündigung der Menschen. Kein Organ des Staates darf die Augen davor verschließen; alle sind sie nach Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz unmittelbar dazu verpflichtet, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechend aktiv zu werden.

Selbst ein Verband, der eher die Interessen von Unternehmern vertritt, der Bundesverband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung KKV (ehemals „Katholischer Kaufmännischer Verein“) sagte 2016: „Dem Konsumenten wird vorgegaukelt, dass er nur auf der Höhe der Zeit ist, wenn er die jeweils neuesten elektronischen Geräte hat oder die modernste Designer-Mode trägt.“

Und in der gemeinsamen Erklärung von 1999 mit dem Titel „Menschen brauchen den Sonntag“ sagten der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz: „Problematisch ist die Entwicklung, wenn das ökonomische Kalkül alle Lebensbereiche bestimmt.“

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